Ein Gottesfunke wird Fleisch
Brief eines Arztes an seine ältesteTochter
Die werdende Mutterschaft sei dir eine Zeit der Wehe und des stillen Glücks, welches aus deinem ganzen Wesen in die Umgebung ausstrahlen und Bewunderung und Neid erwecken möge. Du lebst in ständiger Erwartung und hoffnungsvoller Spannung; denn in deinem ganzen Wesen geht etwas vor sich, was du nicht in der Hand hast; es wächst etwas in dir, das du nicht lenken kannst; es lebt etwas durch dich, das nicht dein Leben ist.
Du stehst wie unter fremdem Gesetz, und du beugst dich ihm in tiefem Glauben und heiliger Unverantwortlichkeit, weil du weißt, dass das Werdende sein Gesetz in sich selbst trägt, dass es ein göttlicher Funke ist, der sich verkleidet unter die Menschen mischen will und sich von dir dazu den Mantel weben lässt. Noch nie hast du mit solcher Begeisterung in dir weben und bauen lassen, und du möchtest alles, was du tust und lässt, dem göttlichen Wesen zukommen lassen. Du gehst allem Ärger und Streit aus dem Weg, kennst keine heftigen und bösen Worte mehr, meidest den Anblick alles Hässlichen und verschließt dein Ohr den lauten und polternden Stimmen und den schlechten Worten und Flüchen der Grobheit und schauderst vor der Kälte der Intelligenz, als ob alles, was an dich herantritt, hineindringen wollte in den Tempel deines Innern, in welchem der Gottesfunke in seine Erdengewänder hineinwächst.
Deinem Nächsten, den du einmal gekränkt hast, gibst du die versöhnende Hand, damit er dir in dieser Zeit keine Unheilgedanken zusendet. Du umgibst dich mit Schönheit in Haus und Gesellschaft und trinkst die Herrlichkeit der Natur auf Spaziergängen und Reisen in dich hinein; denn mit deinen Augen schaut auch das werdende Menschlein, und was deine Seele beeindruckt, bleibt auch in der seinen haften. Mehr als je regulierst du deine Nahrung, vor allem in den ersten Monaten, wo viele Übelkeiten dich warnen und dir die Unzufriedenheit deines Schützlings kundtun.
Hier heißt es noch nicht: für zwei essen, sondern Sonnenkräfte mit der Nahrung hereinströmen lassen, wenig, aber das Wertvollste: Früchte ‚ Nüsse, Vollkornbrot, viele Duftstoffe‚ viel Farbenschwingungen, nichts Getötetes, keine Rausch- und Reizmittel.
Später, in den letzten Monaten kommt es auf die Diät nicht mehr so sehr an, doch wirst du dir auch da immer bewusst bleiben, dass die Nahrungswerte nur im Lebendigen, Sonnenhaften liegen.
So stelle dich in Dienst und Erwartung des werdenden Geheimnisses: du kannst die Füllung der Form nicht beeinflussen, aber du kannst ihr Fußangeln und Scheuklappen mitgeben, die sich als große Hemmnisse ihres Lebensweges auswirken können. Dein Blut ist der Baumeister des kindlichen Leibes, und die Reinheit deines Blutes ist abhängig von dem, was zu deinem Munde eingeht, und von dem, was dein Herz bewegt. Du erziehst dein Kind, indem du dich selbst erziehst.
Dezember 1949
Dr. med. homöop. Heinrich Will (1891-1971)