Zwetschen-Zauber

Dr. med. homöop. Heinrich Will (1891-1971)

Wie bei den Heilkräutern jede Pflanze neben ihrer Allgemeinwirkung auf die Lebenskräfte auch eine spezielle auf bestimmte Organe hat, so haben auch die Obstsorten ihre artspezifischen Einflüsse. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man die frische Zwetsche einen Revolutionär mit Gasangriff und Kanonendonner, die getrocknete Zwetsche einen friedlichen Müllkutscher im Magen-Darmkanal nennen. Die frische Zwetsche hat es besonders auf Leute mit Magenerweiterung und Darmsenkung abgesehen und bereitet ihnen oft böse Stunden. Sie ist die schwerverdaulichste aller Früchte, verweilt lange im Magen-Darmkanal, und die Verdauungsdrüsen müssen in höchste Aktion versetzt werden, bis aus den blauen Früchten rotes Blut geworden ist. Eine solche Verdauungstätigkeit erfordert eine kräftige Magen-Darm-Muskulatur und starke Nerven. Für Gesunde ist daher die Verdauung der Zwetschen, auch größere Mengen und mit Schlagsahne, eine Spielerei, Kranke und Schwächliche dagegen müssen mit der leider so wohlschmeckenden und daher zum Übergenuss anreizenden Frucht vorsichtig umgehen. Wenn es bei ihnen an Lebenskräften fehlt, dann sondern die Drüsen zu wenig oder zu schwache Fermente ab, die Peristaltik des Darmes ist nicht stark genug, um den Speisebrei weiter anzutreiben, und so werden die Zwetschen nicht genügend aufgespalten, bleiben zu lange im Darm liegen und gehen in Gärung über, wodurch der Leib aufgetrieben und Gas erzeugt wird. Die Folgen sind Leibschmerzen bis zu regelrechten Koliken, Blähungen, Erbrechen oder Durchfall. Wer gar Zwetschen Wasser trinkt, riskiert einen Darmverschluss, der oft tödlich ausgegangen ist. Durch diese Hinweise sollen mancherlei Beschwerden zur Zwetschenzeit erklärt, aber keineswegs vom Zwetschengenuss abgeraten werden. Denn wie alles Obst hat auch die Zwetsche ihre hohen gesundheitlichen Werte, sie verlangt nur mehr als andere Früchte Maßhalten, besonders bei Leuten mit schwachem Magen. Der Zwetschenkuchen ist ja eine Lieblingsspeise bei Jung und Alt und reizt zum Überessen. Den Gesunden, schadet die kleine Revolution im Leibe nichts, aber den Schwachen und Kranken kann sie ernste Schäden bringen, wenn das Maß nicht eingehalten wird. Sehr viel milder ist die Wirkung der getrockneten Zwetschen. Sie sind eines die besten Mittel bei chronischer Stuhlverstopfung und können von den Schwachen ebenso genommen werden wie von den Starken. Die sicherste Wirkung erzielt man, wenn man eine kräftige Handvoll „Backpflaumen“ in etwas Wasser aufkocht und heiß verzehrt. Auch trocken gegessen oder in kaltem Wasser abends angesetzt und morgens mitsamt dem Wasser getrunken, tun sie ihre Dienste. Es gibt da weder Gaskrieg noch Kanonendonner, sondern ein stilles wohltätiges Abprotzen der aufgestauten Munition. Es ist daher sehr empfehlenswert, sich zur Zwetschenzeit eine gehörige Portion im Backofen zu trocknen, damit man den Zauber dieser heilsamen Frucht zu allen Jahreszeiten genießen kann.

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